Das Tiefste am Menschen ist die Haut

Space: Galerie Nadan
City: Berlin
Year: 2022
Curation: Dan Chen

Fläche und Raum, der Körper und seine Schatten, Sichtbares und Unsichtbares bilden in Leon Emanuel Blanck Objekten eine schillernde Liaison.

Der Stoff seiner Kunst sind Röntgenbilder, die er beschneidet, collagiert, zu Körpern faltet, zusammennäht, akkumuliert und zu wesenhafte Skulpturen fügt. Im Raum können diese Gebilde ganz unterschiedlich arrangiert sein, sie können hängen, liegen, lagern oder sind an der Wand befestigt. Immer verbinden sie sich mit dem Raum, korrespondieren und kommunizieren untereinander, setzen Blickwechsel zwischen Differenz und Wiederholung in Gang. Jeweils sind sie ein körperliches Gegenüber, das Form und Freiheit, Ähnlichkeit und Fremdheit in der Schwebe hält.

Das Röntgenbild bildet einen dreidimensionalen Körper auf der Fläche ab. Dabei werden die Röntgenschatten, die räumlich hintereinander liegen, übereinander projiziert und die transparenten, transluzenten oder opaken Teile des Röntgenbildes summieren sich zu einem Gesamtschatten. Die schattenhaften Erscheinungen, die Reduktion auf Graustufen, der Verlust des Raums evozieren Immaterialität oder die Auflösung der Materie.

Diese Geisterbilder werden nun in der Blancks Modellierung wieder plastisch körperhaft. In diesen anthropomorphen Objekten steht nicht mehr die geschlossene, gegenständliche Form im Vordergrund, sondern die Skulptur als Addition von Fragmenten, als Raumkonstruktion, in die Licht, Raum, Zeit und Bewegung mit einfließen. Innen und Außen, Volumen und Masse, Durchsichtigkeit und Obskurität spielen wechselweise ineinander, formulieren den Bildkörper mit seinen Wölbungen, Einbuchtungen, Auswüchsen. Jede dieser Skulpturen hält eine subtile Spannung zwischen Oberfläche und räumlicher Tiefe, zwischen der Skiagraphie des Röntgenbildes und Skulptur. Und es ist, als ob das uralte Leib-Seele Problem und das technische Bild des X-Ray sehr eigenartige Verbindungen eingingen.

Vor der Erfindung der Röntgen-Technik war die menschliche Haut die Barriere, die den Blick in das Körper-Innere verwehrte. Diese tief verankerte Vorstellung von Sichtbarkeit und Fassbarkeit wurde durch dieses neue bildgebende Verfahren erschüttert und im Laufe des 19. Jahrhunderts durch neue Visualisierungstechniken grundsätzlich verändert. Walter Benjamin schreibt der Fotografie, dem Film analog zur Psychoanalyse, die Funktion der Sichtbarmachung des “Optisch-Unbewussten“ zu. „Die Kamera macht in der Wahrnehmungswelt ein Optisch-Unbewußtes erfahrbar, sie bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern durchdringt sie. Sie zeigt etwas, das nur außerhalb eines normalen Spektrums der Sinneswahrnehmungen zu finden ist. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.“ Dieses Optisch-Unbewusste bekommt in Blancks Skulpturen gleichsam ein Bewusstsein und eine Anwesenheit. Und wie in Freuds Modell des Unbewussten als unsichtbare Quelle menschlicher Emotionen und Reaktionen wird in den Objekten ein normalerweise Unsichtbares an die Oberfläche gebracht, wird zur Oberfläche. Dabei findet die Abstrahierung des durchleuchteten Körpers seine Entsprechung in Blancks Fragmentierung und abstrakter Formung seines Materials, die Bildlichkeit zugleich zulassen und verweigern. In seiner Philosophie des Films vergleicht Gilles Deleuze das Zeit-Bild-Film mit dem Kristall: diese Kristallbilder vereinen Bildelemente unterschiedlicher Zeiten, die zusammenspielen, miteinander kommunizieren, sich wechselweise durchlässig werden. Auch Leon Emanuel Blanck arbeitet mit Überlagerungen, Modulationen, mit Collage und Montage, mit dieser Durchsichtigkeit des Kristallbildes, bei dem Aktuelles und Virtuelles nebeneinandertreten können.

„Das Tiefste am Menschen ist seine Haut.“ Souverän schalten Blancks Skulpturen mit diesem Paradox. Sie enthüllen und umhüllen, sind elastische Vivisektion.

Diese Gebilde inszenieren Volumen, Bewegung, Material, sind Spiegelung unserer körperlichen Verfasstheit in der Welt, ohne sich egozentrisch zu verhärten. In diesen Objekten wird das Unsichtbare in sichtbare und lesbare Zeichen übersetzt. Mit gelindem Schock facettieren diese Skulpturen gewohnte Sehweisen, initiieren Projektion und Entgrenzung. Eigenwillig reflektiert Leon Emanuel Blanck die kulturelle Errungenschaft der Durchleuchtung des Körpers, der gewohnte Wahrnehmungsweisen ebenso veränderte wie die phantasmatisch-imaginative Sphäre des Bewusstseins. Es sind solche futuristischen Utopien des Erkennens, die in Blancks Arbeiten im und als Körper wieder weltwärts gebracht, illuminiert und befragt werden.

Text: Dorothée Bauerle-Willert
Photography: Phillip Koll